Ärztenetz „Gesundes Kinzigtal“

Integrierte Versorgung

Der Gesetzgeber hat im Jahr 2000 die Möglichkeit eröffnet, über direkte Verträge zwischen ihnen und den Krankenkassen, Verbesserungen zu erproben und abzuschließen. Dabei muss es zwingend um Modelle gehen, die über die einzelnen Sektoren hinausgehen und auch die Wirtschaftlichkeit auf eine neue Grundlage stellen. In Deutschland gibt es inzwischen mehr als 5100 solcher Verträge, allerdings nur eine Handvoll Lösungen, bei denen Ärzte, verbunden mit der Managementkompetenz einer gesundheitswissenschaftlich ausgerichteten Firma, die Organisationsverantwortung für alle Erkrankungen übernommen haben und selber, im Vertrauen auf den Erfolg, in die Gesundheit der Bevölkerung investieren. „Gesundes Kinzigtal“ ist insoweit ein Vorreiter und wird in der Fachöffentlichkeit deshalb interessiert beobachtet.

Miteinander

Die Geschäftsstelle unterstützt nicht nur die gesamte organisatorische Seite der Versorgung, ihr zentrales Augenmerk gilt auch den Präventions- und Gesundheitsprogrammen. Sowohl für die bestehenden als auch diejenigen, deren Einführung noch bevorsteht. Dr. Arthur Feyrer, Facharzt für Orthopädie aus Gengenbach, ist überzeugt: „Es war ein wichtiger Punkt, dass die Programme zum Tragen kamen. Bis diese jeweils umgesetzt sind und ins Laufen kommen, dauert es. Da war viel Feinschliff und intensive Arbeit gemeinsam mit den Kollegen und den anderen Partnern notwendig.“

Neuland

Vieles von dem, was sich die Arbeitsgruppen von „Gesundes Kinzigtal“ zum Ziel setzen, ist Neuland. Es gibt nur wenige Erfahrungswerte für die regionale Integrierte Vollversorgung. Das betrifft sowohl die Inhalte und Zielsetzungen als auch das generelle Miteinander. Immerhin treffen sich in einer Arbeitsgruppe, wie etwa der im Spätherbst 2008 initiierten Arzneimittelkommission, niedergelassene Haus- und Fachärzte etc. „Dabei geht es um Therapieabstimmung, die wirksamsten Arzneimittel und mögliche Empfehlungen“, beschreiben Dr. Ulrike Diener und Dr. Stephan Ziems, Mitglieder der Arzneimittelkommission, das Vorgehen. Unterschiedliche Erfahrungen, Erwartungen und Persönlichkeiten müssen unter einen Hut gebracht werden. „Bei solchen Treffen gibt es immer lebhafte Diskussionen. Aber sie sind konstruktiv und ergebnisorientiert.“

Die fertig ausgearbeiteten Programme lassen kaum erahnen, wie viel Arbeit tatsächlich in ihnen steckt. Schließlich müssen die anderen Kolleginnen und Kollegen sowie deren Praxis-teams informiert werden, damit sie das Programm den betroffenen Mitgliedern anbieten und diese davon profitieren können.

Die Patienten

„Ich muss seltener zum Arzt gehen.“ Isolde Müller* fällt es leicht, die Vorteile der Programme von „Gesundes Kinzigtal“ zu summieren. Auch Friedrich Lang*, seit gut einem Jahr dabei, zieht ein positives Fazit und freut sich über das Angebot. „Es gibt doch einiges, was man vorher gar nicht gewusst und beachtet hat“. Die Informationen zu seiner Krankheit und die Teilnahme am Programm „Starkes Herz“ haben sich für ihn direkt ausgewirkt: „Mein Medikamentenverbrauch hat sich reduziert. Ich fühle mich sicherer.“ Gotthard Nussler* aus Steinach hat ebenfalls einen Erfolg zu verbuchen: „Ich habe etliche Kilo abgenommen.“ Nun muss sich der 58-Jährige aber am Riemen reißen und weiterhin so regelmäßig ins Training gehen, sagt er: „Sonst hat man gleich wieder alles drauf.“ Rosi Weber* hat sogar extra die Krankenkasse gewechselt, damit sie auch mitmachen kann. „Weil wir die Vorteile von ‚Gesundes Kinzigtal‘ nutzen wollten. Mein Mann macht momentan mit bei dieser Gesundheitsaktion mit dem Training Center Wolfach. Seitdem er Mitglied bei ‚Gesundes Kinzigtal‘ ist, bekommt er das jetzt etwas günstiger.“ Elli Moser* bringt es auf den Punkt: „Ich fühle mich gut aufgehoben.“

Dass sich die Arbeit aller Beteiligten auszahlt, zeigt sich auch in der ansteigenden Anzahl der Mitglieder von „Gesundes Kinzigtal“. Mit einem Plus von annähernd 2400 Teilnehmern war 2008 eine Verdoppelung zu verzeichnen. Eine Ursache dafür ist neben den attraktiven Zusatzangeboten auch der zunehmende Bekanntheitsgrad von „Gesundes Kinzigtal“.

Ein Prozess

AOK- und LKK-Versicherte aus dem Kinzigtal können sich beim Haus- oder Facharzt als Mitglied einschreiben. Ein Patient wählt sich seinen „Arzt des Vertrauens“. In der Regel ist dies der Hausarzt. Es gibt aber auch eine Reihe von Mitgliedern, die sich einen Facharzt oder ihren Psychotherapeuten als „Arzt ihres Vertrauens“ gewählt haben. Zunächst wird dann das Risiko für chronische Erkrankungen ermittelt und gegebenenfalls ein umfassender Check- up durchgeführt. In dem Fragebogen „Meine Gesundheit“ gibt dann das Mitglied seine persönlichen Bedürfnisse und Veränderungswünsche an: „Was beeinträchtigt Ihrer Meinung nach Ihren momentanen Gesundheitszustand?“, „Haben Sie Probleme am Arbeitsplatz oder in Ihrem privaten Umfeld?“ oder „Hat sich Ihr Körpergewicht in den vergangenen drei Jahren geändert?“, „Was möchten Sie unternehmen, damit sich Ihr Gesundheitszustand verbessert?“

Aus diesen Antworten, den Empfehlungen des Arztes und den Angeboten von „Gesundes Kinzigtal“ bilden sich oft direkt mehrere Schnittmengen. Und diese gilt es zu nutzen – für den Arzt und den Patienten.

Erreichbare Ziele

Ein wichtiger Baustein in der Arbeit von „Gesundes Kinzigtal“ ist eine Zielvereinbarung zwischen Arzt und Patient. Damit werden die vom Patienten gewünschten und für ihn auch erreichbaren Gesundheitsziele definiert und auf Papier festgehalten. Weniger rauchen, mehr Bewegung, Reduktion des Gewichts durch mehr Fitness und bessere Ernährung, Stärkung des Herzens, mehr Ausgleich zum Alltagsstress schaffen: Die Ziele sind so individuell wie die Patienten – und stark von deren aktuellen Lebensumständen abhängig. Franziska Beckebans, Geschäftsstellenleiterin: „Entscheidend ist, dass die vereinbarten Ziele auch erreichbar sind und keine Frustration, sondern Motivation zur Veränderung hervorrufen. Dies ist nur möglich, wenn der Behandler die individuellen Gegebenheiten des Patienten kennt und auf sie eingehen kann.“ Die Ärzte und Psychotherapeuten von „Gesundes Kinzigtal“ haben es sich zum Ziel gesetzt, die Entstehung der Gesundheit und den Ansatz der ganzheitlichen Medizin stärker mit einzubeziehen. Nur eine Entscheidung über die Therapie, die der Patient mitträgt und die gemeinsam getroffen wird, führt auch zu einem Erfolg.

Qualitätsarbeit und -management

Eine hohe Qualität der Arbeit aller Beteiligten ist für den Erfolg eines solchen Projektes entscheidend. Die Mitglieder, die ihren Arzt frei wählen und jederzeit wechseln können, müssen von der guten Arbeit im Behandlungsprozess überzeugt sein. Neben der Befragung der Versicherten nach ihrer Zufriedenheit mit der medizinischen Versorgung im Kinzigtal haben es sich alle beteiligten Praxen zur Aufgabe gemacht, ein Qualitätsmanagement (in der Regel QEP – Qualität und Effizienz in Praxen) einzuführen, um sich bis spätestens Ende 2009 zertifizieren zu lassen. Zwei der Leistungspartnerpraxen, die Praxis von Dr. Gräber und Dr. Haagen (Urologie und Dermatologie) sowie die von Herrn und Frau Dres. Stunder (Allgemeinmedizin), sind bereits zertifiziert. Das Praxisnetz erleichtert es den ärztlichen und psychotherapeutischen Kollegen, auf dem neuesten medizinischen Stand zu bleiben und sich regelmäßig über fachliche Themen auszutauschen. Dazu gibt es bei „Gesundes Kinzigtal“ eine Verpflichtung der Leistungspartner, an Qualitätszirkelsitzungen teilzunehmen, und zwar häufiger, als dies von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) vorgeschrieben wird. In den Qualitätszirkeln finden auch die Fallbesprechungen und die Leitlinienausarbeitung statt. Laufend werden diese bei Bedarf angepasst und um weitere Indikationen erweitert.

Die ärztlichen und therapeutischen Leistungspartner von „Gesundes Kinzigtal“ haben sich verpflichtet, jährlich ein bis zwei Qualitätszirkel mit insgesamt sechs Sitzungen zu besuchen. In diesen Sitzungen werden gemeinsam medizinische Leitlinien (damit sind praxisorientierte Handlungsempfehlungen gemeint) auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand entwickelt, die den Arzt bei der Behandlung definierter Krankheiten leiten können. 2008 trafen sich 14 Qualitätszirkel zu 48 Sitzungen. Unter anderem wurden 2008 Behandlungsleitlinien für folgende Themengebiete entwickelt:

  • Schlaganfall
  • nicht metastasiertes Prostatakarzinom
  • chronisch venöse Insuffizienz

Wirtschaftlicher Erfolg

Das Verhältnis von Einnahmen zu Ausgaben (=Deckungsbeitrag) der AOK-Versicherten im Kinzigtal konnte durch die Vernetzungs- und Vorsorgemaßnahmen positiver gehalten werden, als zu erwarten gewesen wäre. Im 2. Halbjahr 2006 und 1. Halbjahr 2007 lag die Quote bereits bei 2,08 % gegenüber dem Ergebnis vor dem Beginn des Vertrages. Durch den Risikostrukturausgleich der Krankenkassen untereinander werden quasi als Nebeneffekt auch die Durchschnittskosten der Versorgung pro Alter, Geschlecht etc. ermittelt. Diese Größen werden für die Ergebnisberechnung im Kinzigtal genutzt. Gleichzeitig wird damit gesichert, dass immer das jeweilige Volumen zur Verfügung steht, das auch bundesweit für eine gleichartig zusammengesetzte Bevölkerung zur Verfügung steht.

Kinzigtal im „Wirkbetrieb“

Die Gesellschaft „Gesundes Kinzigtal“ GmbH finanziert sich (seit Abschluss der bis Ende Juni 2007 geltenden Phase der Anschubfinanzierung) ausschließlich aus der durch sie organisierten Deckungsbeitragsverbesserung gegenüber der Zeit vor dem Start des Projektes für die Gesamtpopulation der AOK-/LKK-Versicherten im Kinzigtal. Dabei geht sie mit den beiden Krankenkassen einen auf neun Jahre hin geltenden Vertrag ein und hat, anders als die bisherigen Leistungserbringer im deutschen Gesundheitswesen, ein Interesse an der „richtigen“ Versorgung zur „richtigen“ Zeit am „richtigen“ Ort, d.h. an der maximalen Effizienz der Versorgung über die Laufzeit des Vertrags. Der Deckungsbeitrag bezieht sich auf alle ca. 31 000 Versicherten der beteiligten Krankenkassen, die etwa 50 % der Bevölkerung im Kinzigtal versichern – und zwar unabhängig davon, wo sich der Patient behandeln lässt.

Im Ärztlichen Beirat sowie den Projekt- und Arbeitsgruppen …

… entwickeln Vertreter der unterschiedlichen medizinischen Berufsgruppen (Ärzte, Therapeuten, Pfleger etc.) gemeinsam die Programme von „Gesundes Kinzigtal“.

2008 waren dies folgende Themen und Projektgruppen:

  • Starke Muskeln – Feste Knochen (Osteoporose)
  • Psychotherapie Akut – schnelle Kurzzeithilfe
  • Starkes Herz (Herzinsuffizienz)
  • Rauchfreies Kinzigtal (Raucherentwöhnung)
  • Gesundes Gewicht (Metabolisches Syndrom)
  • Gesundes Gewicht macht Schule (Ein Wettbewerb für Schulklassen rund um das Thema Gesundes Gewicht)
  • Arzneimittelkommission Kinzigtal (Optimierung der Arzneimittelverordnungen zwischen niedergelassenen Ärzten und Kliniken)
  • Gesundheitspass „Gesundes Kinzigtal“ (Die Patienten können den Ärzten Einblick geben in die Akte der anderen Ärzte)
    – Zusammenarbeit mit Sportvereinen
    – Vortragsserie zu Gesundheitsthemen mit der Volkshochschule
    – Gemeinsame Behandlungsleitlinien für Erkrankungen (organisiert über das MQNK)
  • Förderprogramm „Praktische Zukunft“ (Nachwuchsärzte für die Praxen im Kinzigtal)
  • Schnelle Wundheilung (Management chronischer Wunden)
  • MORE-Studie – Optimale Anpassung der Arzneimitteldosierung an die individuelle Metabolisierung
  • Sehschwächevorsorge bei Kindern – Amblyopie
  • ÄrztePlusPflege – Zusammenarbeit mit Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten